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«Whistleblowing ist ein Akt der Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber.»

TI Schweiz: Herr Jaico , Sie sind Anwalt und Autor zahlreicher juristischer Schriften. Sie sind im Begriff, einen Text über Whistleblowing im schweizerischen Recht zu verfassen, der noch in diesem Jahr veröffentlicht wird. Können Sie bitte erläutern, was ein Whistleblower ist und welche Merkmale ihn auszeichnen?

Carlos Jaico: Der Whistleblower ist eine Person, die über InsiderInformationen verfügt oder direkt Zeuge von Unterlassungen beziehungsweise rechtswidrigen Handlungen und Missständen am Arbeitsplatz geworden ist und diese offenlegen möchte. Ein wichtiges Merkmal des Whistleblower ist, dass er grundsätzlich nicht im persönlichen Interesse handelt. Er agiert im Interesse des Arbeitgebers, indem er ihn darauf hinweist, dass seine Interessen geschädigt oder gefährdet werden. Der Alarm des Whistleblowers ist ein Akt der Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber, denn er gibt diesem die Gelegenheit, die Missstände zu bereinigen und seine Reputation zu wahren, bevor die Öffentlichkeit von den Unregelmässigkeiten erfährt.

„Der Whistleblower ist eine Person, die über Insiderinformationen verfügt oder direkt Zeuge von Unterlassungen beziehungsweise rechtswidrigen Handlungen und Missständen am Arbeitsplatz geworden ist und diese offenlegen möchte.“

Der Whistleblower deckt Korruption, Betrug, Geldwäscherei, Belastungen der Umwelt oder Ähnliches auf und handelt damit im Bestreben, das Gemeinwohl zu schützen. Er kann aber auch im persönlichen Interesse eines Dritten handelt, wenn dies seiner Einschätzung nach überwiegt, z. B. wenn die Gesundheit anderer gefährdet oder das kulturelle Erbe beeinträchtigt wird.

TI Schweiz: In welchen Fällen sind Meldungen durch einen Whistleblower legitim? Und warum ist der Alarm notwendig und wünschenswert?

Carlos Jaico: Wenn wir die gesetzgeberischen Praktiken verschiedener Länder anschauen, stellen wir fest, dass besonders schwere oder tragische Ereignisse Gesetzgeber veranlasst haben, Spezialgesetze zu verfassen. So beispielsweise wurde nach der ChallengerKatastrophe im Jahr 1986 der Whistleblower Protection Act verabschiedet; der Public Interest Disclosure Act wiederum ist eine Reaktion auf die Fährschiff bzw. Zugunglücke in Grossbritannien, bei denen zahlreiche Menschen umkamen. In diesen Fällen wurde nachträglich bekannt, dass Mitarbeiter der zuständigen Unternehmen über die Risiken informiert waren, aber Angst hatten, darüber zu sprechen. In den letzten zehn Jahren haben wir erfahren, dass Funktionsstörungen der Finanzsysteme eine internationale Krise auslösen können. Die Fälle Worldcom und Enron in den Vereinigten Staaten haben in diesem Zusammenhang nahezu symbolischen Charakter. Noch schlimmer, solche Funktionsstörungen können die wirtschaftliche Stabilität eines ganzen Landes gefährden. Nach dem Konkurs der BANKIA beispielsweise sank die Länderrisikoprämie Spaniens um 40 Punkte. Dieses Beispiel zeigt, dass Schwächen im Finanzsystem bedeutende Konsequenzen für die Wirtschaft eines Landes nach sich ziehen können. Auch die Schweiz ist in dieser Hinsicht nicht immun. In mehreren Finanzinstitutionen wurden interne Hinweise über Steuerflucht oder Geldwäscherei vorgebracht. Fälle wie jene von Rudolf Elmer, ExMitarbeiter von Julius Bär auf den Cayman Islands, Bradley Birkenfeld, ExMitarbeiter der UBS in den USA, und Hervé Falciani, ExMitarbeiter der HSBC, sollten uns veranlassen, erneut über diese Problematik in der Schweiz nachzudenken. Es ist nicht empfehlenswert, auf einen neuen Fall dieser Grössenordnung zu warten, bevor gesetzgeberische Massnahmen ergriffen werden. Gesetzliche Bestimmungen und klare WhistleblowingAbläufe können dazu beitragen, das interne Management privater Einrichtungen zu verbessern. Nicht leitende Mitarbeiter sind häufig die Ersten, die Unregelmässigkeiten feststellen. Angemessene Vorschriften können einem betroffenen Unternehmen Gelegenheit geben, die Probleme zu erkennen, bevor sie sich seiner Kontrolle entziehen. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass lediglich 42 Prozent der grössten Schweizer Unternehmen über definierte WhistleblowerRichtlinien für die anonyme Meldung eines Falles an ein unabhängiges Organ verfügen. Offensichtlich ist sich ein grosser Teil der Unternehmen des Problems bislang nur unzureichend bewusst. Selbstverständlich können Unternehmen interne Melderichtlinien definieren, ohne dass sie hierzu gesetzlich verpflichtet sind. Aber es steht ausser Frage, dass dieser Prozess durch eine geeignete Gesetzgebung beschleunigt werden kann.

TI-Schweyz: Mit welchen Schwierigkeiten muss ein Whistleblower heute rechnen, wenn er eine Unregelmässigkeit melden möchte? 

Carlos Jaico: In unserer Gesellschaft wird der Whistleblower weder als ein Helfer der Justiz noch als ein loyaler Mitarbeiter angesehen, der sich den Werten seines Unternehmens verpflichtet fühlt. Folglich sieht er sich grundsätzlich mit drei Schwierigkeiten konfrontiert: Erstens hat unsere Gesellschaft bislang keine klare Vorstellung über seine Rolle. Zuweilen wird er noch als Denunziant wahrgenommen, dem der Makel des Verräters bis ans Ende seiner beruflichen Laufbahn anhaften kann. In Frankreich ist die Lage ähnlich, denn dort wird Whistleblowing häufig mit der Denunziastionswelle im 2. Weltkrieg gleichgesetzt, womit die historische Konnotation unweigerlich auch auf das Whistleblowing abfärbt. Diese Begriffsverwirrung kann jemanden, der eine Unregelmässigkeit aufdecken möchte, leicht abschrecken.Eine zweite Schwierigkeit sind mögliche negative Effekte. Wenn ein Mitarbeiter Missstände meldet, muss er mit unerwarteten Konsequenzen rechnen. In der Regel geht ein Whistleblower davon aus, dass sich die Situation nach dem Auslösen des Alarms verbessert beziehungsweise dass der Arbeitgeber die Ursachen des aufgezeigten Missstandes in Angriff nimmt. Dies ist aber nicht immer der Fall. Es kommt vor, dass der Arbeitgeber die Meldung tatenlos hinnimmt oder – noch schlimmer – den Mitarbeiter unter Druck setzt. Auch Mobbing oder eine Strafanzeige wegen Diffamierung sind negative Effekte. Sie zeigen, wie hart die Realität für einen Mitarbeiter sein kann, der es wagt, das Gesetz des Schweigens zu brechen.Eine dritte Schwierigkeit stellt sich, wenn das Unternehmen, in dem der Whistleblower arbeitet, über keine internen Richtlinien für die Meldung von Missständen verfügt. In diesem Fall ist der Mitarbeiter nicht sicher, wo oder wem er den Fall melden soll. Dieser Zeitpunkt ist jedoch ausserordentlich wichtig für ihn, denn eine übereilte oder falsch adressierte Meldung kann eine fristlose Kündigung nach sich ziehen. Ein solcher Fall wurde vom Bundesgericht bereits untersucht, siehe BGE 127 III 310. Den Bundesrichtern wurde der Fall einer Angestellten eines Pflegeheims vorgelegt, die ohne Wissen des Arbeitgebers nachts im Innern des Heims einen Film über die Lage der Heimbewohnerinnen und bewohner gedreht hatte. Der Film wurde dem westschweizerischen Fernsehen übergeben und in einer kritischen Sendung ausgestrahlt. Das Bundesgericht bestätigte die fristlose Kündigung mit der Begründung, die Angestellte habe ihre Verpflichtung zur Verschwiegenheit verletzt.In einem weiteren Entscheid aus dem Jahr 2008, der den Bankensektor betraf, befand das Bundesgericht, es sei Aufgabe der Bank, ein Verfahren für die interne Meldung von Missständen zu definieren. In diesem Entscheid kam das Bundesgericht zum Schluss, dass der Whistleblower sich an einen Anwalt gewendet hatte, weil das Unternehmen über kein angemessenes sicheres Meldeverfahren verfügte. Die Bank indessen sah den Anwalt als externen Adressaten. Da keine klaren Richtlinien für die Meldung von Missständen vorlagen, war das Verhalten des Angestellten gerechtfertigt; die Bank wurde wegen missbräuchlicher Kündigung verurteilt.

„Eine Schwierigkeit stellt sich, wenn das Unternehmen, in dem der Whistleblower arbeitet, über keine internen Richtlinien für die Meldung von Missständen verfügt." 

TI-Schweyz: Im Mai 2003 reichte der ehemalige Nationalrat Remo Gysin eine Motion ein, die einen effektiven Schutz von Personen fordert, die Hinweise über Unregelmässigkeiten in einem Betrieb melden. Nahezu zehn Jahre später – nach Annahme durch das Parlament im Jahr 2006 und zwei Vernehmlassungen (zu denen TI Schweiz Stellung bezogen hat) – entschied der Bundesrat im November 2012, auf eine Verbesserung des Schutzes vor missbräuchlicher Kündigung zu verzichten und die Bedingungen, unter denen Missstände gemeldet werden können, in einem neuen Artikel des Obligationenrechts (OR) zu regeln. Damit wird dem Parlament nun endlich ein Entwurf zur Änderung des Obligationenrechts unterbreitet. Welche Änderungen sieht der Gesetzesentwurf vor?

Carlos Jaico: Der Vorentwurf des neuen Artikels 321a bis OR basiert auf dem von der Rechtsprechung des Bundesgerichts gebotenen Grundsatz der Verhältnismässigkeit und sieht ein abgestuftes Meldesystem vor. Er verleiht einem Arbeitnehmer, der Missstände bemerkt oder vermutet, das Recht, diese zu melden. Die Meldung muss in Treu und Glauben erfolgen, die «Missstände» betreffen und sich in erster Linie an den Arbeitgeber richten. Falls die Missstände «das öffentliche Interesse berühren» und der Arbeitgeber keine wirksamen Massnahmen ergreift, kann der Mitarbeiter die Missstände auch der zuständigen Behörde melden. Versäumt es letztere, die erforderlichen Massnahmen zu ergreifen, kann der Arbeitnehmer die Öffentlichkeit informieren, namentlich indem er sich an die Medien oder an interessierte Organisationen wendet. 

TI-Schweyz: Können diese Gesetzesänderungen die Situation der Whistleblower verbessern?

Carlos Jaico: Zweifellos. Ein Whistleblower braucht klare Regeln, damit er weiss, wie er im Falle einer Meldung vorgehen muss. Mit dem abgestuften Meldesystem steht ihm ein rechtskonformer Weg offen, und er kennt die gesetzlich vorgeschriebenen Schritte. Hält er sie ein, kann ihm nicht gekündigt werden. Sobald sein Status als Whistleblower anerkannt ist, wird seine Lage nicht nur im Hinblick auf eine missbräuchliche Kündigung besser, sondern auch für den Fortgang seiner beruflichen Laufbahn. Bei einem Entlassungsverfahren kann der Mitarbeiter die Stichhaltigkeit seiner Meldung auf der Grundlage der gesetzlich verankerten Kriterien beweisen. Die Auseinandersetzung Birkenfeld vs. UBS vor dem Arbeitsgericht Genf im Jahr 2006 hätte unter dem Blickwinkel des Whistleblowing untersucht werden können, in der Realität wurde sie im März 2007 durch eine Einigung beendet.

TI-Schweyz: Was ändert sich für den Arbeitgeber?

Carlos Jaico: Der Arbeitgeber kann es sich nicht länger leisten, untätig zu sein oder keine Position zu beziehen. Er ist gezwungen, zu handeln und die Missstände zu beheben. Bleibt er untätig oder schweigt, gibt er dem Mitarbeiter Gelegenheit, sich an die zuständige Behörde oder die Medien zu wenden. Zudem kann er den Mitarbeiter nicht länger allein wegen der Meldung entlassen, sofern diese unter Wahrung der Verpflichtung zur Verschwiegenheit erfolgte.

TI-Schweyz: Worin liegen Ihrer Meinung nach die Stärken der geplanten Gesetzesrevision?

Carlos Jaico: Eine Kündigung innerhalb der gesetzlich vorgeschrieben Fristen nach erfolgter Meldung gemäss Vorentwurf von Art. 321a bis OR ist ausdrücklich missbräuchlich. Auch eine fristlose Kündigung ist gesetzeswidrig, denn die Verpflichtung zur Verschwiegenheit wird eingehalten. Was muss bei der Debatte um die Gesetzesrevision bedacht werden, wenn sie dem Parlament unterbreitet wird? Der Gesetzgeber muss im Auge behalten, dass es heute bereits Missstände in der Schweiz gibt, über die niemand zu sprechen wagt. Und dass Mitarbeiter, die sie melden, unter Druck gesetzt werden. Diese Gesetzeslücke hat soziale Auswirkungen und muss geschlossen werden. Hierfür brauchen wir einen klaren Rahmen, der den internationalen Praktiken entspricht. Die Reputation und die Glaubwürdigkeit der Schweiz in der Welt werden ohne Zweifel von diesem Schritt profitieren. 

„Der Gesetzgeber muss im Auge behalten, dass es heute bereits Missstände in der Schweiz gibt, über die niemand zu sprechen wagt."